Zehn erstaunliche Erkenntnisse über gemeinsame Elternschaft nach Trennung und Scheidung



(Übersetzung aus dem Englischen von Johannes Busse, Stand 5. Juli 2017)

von Professor Dr. Linda Nielsen (Jugend- und Bildungspsychologie; Wake Forest University, North Carolina, USA)
https://ifstudies.org/blog/10-surprising-findings-on-shared-parenting-after-divorce-or-separation
20. Juni 2017
die wichtigsten Erkenntnisse vorab:

- Grundsätzlich (im Durchschnitt) geht es Kinder in der Doppelresidenz besser als im Residenzmodell
- Durch Übernachtungen bei beiden Eltern werden die Bindungen von Kleinkindern (und Babys) weder zur Mutter noch zum Vater geschwächt

In welchem Betreuungsarrangement geht es Kindern nach einer Trennung oder Scheidung am Besten? Ist für Kinder das sogenannte Residenzmodell, in dem sie hauptsächlich oder ausschließlich bei einem Elternteil leben und in verschieden großem Umfang mit dem anderen Elternteil Umgang haben, das Günstigste? Oder geht es ihnen besser, wenn sie bei beiden Eltern wenigstens 35 Prozent der Zeit in einem Betreuungsarrangement gemeinsamer Elternschaft verbringen? Kann gemeinsame Elternschaft und die Doppelresidenz überhaupt vorteilhaft sein, wenn die Eltern in rechtliche oder sonstige Auseinandersetzungen verstrickt sind? Oder kommt die Doppelresidenz nicht vielleicht sogar lediglich für eine sehr herausgehobene Gruppe von Eltern in Betracht – für diejenigen, die über ein hohes Einkommen verfügen, sich wenigstreiten und grundsätzlich eine harmonische Beziehung auch nach der Trennung pflegen und sich zudem von Anfang an freiwillig für die Doppelresidenz entscheiden?

Um Ihnen diese Fragen zu beantworten,habe ich 54 wissenschaftliche Studien untersucht, die das Wohlergehen von Kindern in der Doppelresidenz (gemeinsame Elternschaft) mit dem Wohlergehen im Residenzmodell unabhängig von der Höhe des Einkommens und unabhängig von der Konflikthaftigkeit derElternbeziehung vergleichen. In einem weiteren kürzlich erschienen Beitrag(http://www.apa.org/pubs/journals/features/law-law0000109.pdf) habe ich alle wissenschaftlichen Studien ausgewertet, in denen das Konfliktniveau und die Qualität der gemeinsamen Elternschaft in beiden Betreuungsarrangements (in der Doppelresidenz, im Residenzmodell) verglichen werden. Zehn erstaunliche Befunde haben sich bei der vergleichenden Literaturanalyse herauskristallisiert (http://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/10502556.2014.965578), von denen viele gängige Stereotype widerlegen, die oftmals zu Betreuungsarrangements führen, die nicht im wohlverstandenen Interesse der Kinder sind. 

  1. In allen 54 Studien –Situationen, in denen Kinder vor Vernachlässigung oder Gewalt bereits vor der Trennung geschützt werden mussten außen vor –zeigten Kinder in Nachtrennungsarrangements gemeinsamer Elternschaft bessere Untersuchungsergebnisse als Kinder im Residenzmodell.
    Die untersuchtenParameter für das Wohlergehen der Kinder umfassten Schulleistungen,emotionale Gesundheit (Anspannung, Depression, Selbstbewusstsein,Lebenszufriedenheit), Verhaltensauffälligkeiten (Straffälligkeit, auffälliges Verhalten in der Schule, Hänseln, Drogen, Alkoholkonsum, Rauchen), physische Gesundheit und stressbedingte Krankheiten sowie die Beziehungen der Kinder zu ihren Eltern, Stiefeltern und Großeltern.

  2. Kleinkinder und Babys zeigen in Betreuungsarrangements gemeinsamer Elternschaft keine schlechteren Anpassungsleistungen als im Residenzmodell.
    Die Übernachtungvon Kleinkindern und Babys bei beiden Eltern führt nicht zu weniger starken Bindungen zu einem der beiden Elternteilen(https://ifstudies.org/blog/how-woozling-deprives-babies-of-fathering-time).

  3. Auch unter Berücksichtigungdes Elternkonflikts erging es Kindern in Betreuungsarrangements gemeinsamer Elternschaft grundsätzlich und nach vielen Maßstäbendes Kindeswohls besser als im Residenzmodell.
    Die Konfliktbelastung verkehrt die Vorteile der gemeinsamen Elternschaft nicht ins Gegenteil. Die besseren Untersuchungsergebnisse von Kindern in Betreuungsarrangements gemeinsamer Elternschaft können nicht der a priori niedrigeren Konfliktbelastung oder der besseren Elternbeziehung zugeschrieben werden.

  4. Auch unter Berücksichtigungdes Familieneinkommens sind die Ergebnisse zugunsten gemeinsamer Elternschaft eindeutig.
    Die Eltern, die eine gemeinsame Elternschaft leben, sind grundsätzlich nicht deutlich wohlhabender als Eltern im Residenzmodell.

  5. Eltern, die ein Betreuungsarrangement gemeinsamer Elternschaft gewählt haben, zeichnen sich nicht durch weniger Elternkonflikte oder eine bessere Elternbeziehung aus als Eltern im Residenzmodell.
    Die Vorteilegemeinsamer Elternschaft sind nicht durch eine niedrigere Konfliktbelastung oder bessere Elternbeziehungen bedingt.

  6. Viele der Eltern, die eine gemeinsame Elternschaft leben, haben sich ursprünglich nicht freiwillig dafür entschieden.
    In der Mehrzahlder untersuchten Fälle war ein Elternteil ursprünglich gegen die gemeinsame Elternschaft und hat sich erst unter dem Eindruck gerichtlicher Vergleiche, von Mediation oder Gerichtsurteilen zu dieser bereit erklärt. Doch die entsprechenden Studien zeigen, dass es Kindern auch in diesen Fällen mit der gemeinsamen Elternschaft besser geht als im Residenzmodell.

  7. Kindern, die anhaltenden, intensiven Elternkonflikten, auch physischen Konflikten, ausgesetzt sind, geht es mit gemeinsamer Elternschaft nicht schlechter als imResidenzmodell.
    Fortgesetzter Elternkonflikt ist für Kinder in Betreuungsarrangements gemeinsamer Elternschaft nicht schädlicher als im Residenzmodell.

  8. Der Erhalt von starken, tragfähigen Bindungen zu beiden Eltern in Arrangements gemeinsamer Elternschaft scheint den Schaden durch eine hoheKonfliktbelastung und schlechte Elternbeziehungen zu kompensieren.
    Die gemeinsame Elternschaft per se hebt die negativen Einflüsse von anhaltendem, heftigem Streit, sollten Kinder ihm öfter ausgesetzt sein, auf diese nicht auf. Aber die gemeinsame Elternschaft an sich scheint dazu beizutragen, Stress, Ängstlichkeit und Depression bei Kinderngrundsätzlich abzubauen.

  9. In Arrangements gemeinsamer Elternschaft behelfen sich Eltern viel häufiger mit einer sogenannten entkoppelten (detached), distanzierten oder sogenannten parallelen Erziehung ihrer Kinder als sie tatsächlich gemeinsam (co-parenting), in enger Zusammenarbeit, erziehen.
    Lediglich im Rahmen gemeinsamer Erziehung kommunizieren die Eltern häufig, haben regen Austausch, stimmen die Regeln und Rituale ab und versuchen,einen gemeinsamen Erziehungsstil zu pflegen.

  10. Keine wissenschaftliche Studie wartete mit Ergebnissen auf, die die Vermutung nahelegen, dass es Kindern, deren Eltern in bedeutende juristische Auseinandersetzungen verstrickt bzw. sich gerichtlich auseinandersetzen, schlechter geht als denjenigen, deren Eltern keine oder weniger gerichtlichen Sorge- oder Umgangsrechtsstreitigkeiten haben.


Diese wissenschaftlichen Erkenntnisse widerlegen gängige Auffassungen über gemeinsame Elternschaft. Eine dieser weitverbreiteten Meinungen aus dem Bereich der Mythen basiert auf einer Studie aus dem Jahr 2013 der University of Virginia (https://news.virginia.edu/content/overnights-away-home-affect-children-s-attachments-study-shows),deren Ergebnisse in dutzenden Medien auf der ganzen Welt unter dem aufwühlenden Titel: „Übernachtungen ohne die Mutter beeinträchtigen die emotionale Bindung von Kleinkindern.“„Spending overnights away from mom weakens infants‘ bonds.“In der offiziellen Pressemitteilung teilten die Wissenschaftler mit, dass ihre Studie Richtern als Leitschnur für Sorgerechtsentscheidungen von Kindern bis zum Alter von vier Jahren dienen sollten. Tatsächlich sind die Studienergebnisse aber nicht auf die allgemeine Bevölkerung übertragbar. Die im Rahmen der Studie befragten Mütter waren verarmte, bildungsferne, nicht-weiße Eltern, die grundsätzlich nie verheiratet waren oder zusammengelebt hatten. Sie waren überdurchschnittlich häufig im Gefängnis gewesen, zeichneten sich durch überdurchschnittlich hohen Drogenmissbrauch und Gewalttätigkeit aus und hatten Kinder von mehreren Partnern. Überdies konnte die Studie gar keine eindeutige Verbindung zwischen Übernachtungen beim Vater und den Bindungen von Kleinkindern zu ihren Müttern etablieren.

Meine Auswertung der 54 wissenschaftlichen Studien über gemeinsame Elternschaft ergibt, dass Kinder in der Doppelresidenz bzw. in Arrangements gemeinsamer Elternschaft allgemein, unabhängig von Elternkonflikten und Familieneinkommen (außer in Situationen, in denen Kinder vor Vernachlässigung oder Missbrauch durch ihre Eltern geschützt werden müssen), bessere Untersuchungsergebnisse über eine große Bandbreite von Indikatoren von Wohlergehen haben als Kinder, die im Residenzmodell leben. Das Wissen um diese Ergebnisse und deren Verständnis, versetzen uns in die Lage, einige der verbreiteten Mythen über gemeinsame Elternschaft zu widerlegen, sodass wir Millionen von Kindern, deren Eltern nicht mehr zusammen leben, bessere Betreuungsregelungen anbieten können.

Dr. Linda Nielsen ist Professorin für Jugend- und Bildungspsychologie an der Wake Forest University in North Carolina. Sie hat zahlreiche wissenschaftliche Beitrage zur Forschung über gemeinsame Elternschaft publiziert und berichtet darüber regelmäßig in parlamentarischen Ausschüssen und vor Familienrechtsprofessionen. Abzüge ihrer wissenschaftlichen Beiträge stellt sie gern zur Verfügung (auf Englisch): nielsen(at)wfu.edu.


Zuletzt geändert am 08.05.2020 um 10:07

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