Erstmals erschienen in Beratung aktuell Ausgabe 1/2020
Veröffentlicht bei Researchgate sowie dortiger pdf-Download
Autor: Markus Witt
Die angegebenen Fußnoten sind im pdf auf Researchgate nachzulesen
Die Doppelresidenz (Wechselmodell) ist in Deutschland, im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern, noch stark umstritten. Während das überwiegend gelebte Residenzmodell sich jeglicher erkenntnisbasierten Grundlage entzieht, besteht heute die Möglichkeit, sich einer umfassend erkenntnisbasierten, kindeswohldienlichen Betreuungsform zu öffnen. Die Doppelresidenz hat sich in umfangreichen internationalen Studien als in keinem Punkt schlechter, aber in vielen Punkten besser als das Residenzmodell erwiesen. Es fehlt bisher aber an einem ausreichenden Transfer dieser wissenschaftlichen Erkenntnisse in den deutschen Sprachraum.
Häufig wird die Beurteilung dieser Betreuungsform noch von längst überholten Vorurteilen geprägt, die einer tatsächlichen Orientierung an den Bedürfnissen und dem Wohlergehen der Kinder entgegensteht. Es besteht ein erhebliches Defizit zwischen bereits vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnissen und historisch geprägtem Rollenverständnis.
Nahezu unbeachtet bleibt, dass dies auch eine gleichberechtigte Aufgabenverteilung in Familie und Beruf verhindert, von der insbesondere Mütter profitieren könnten.
So ergibt eine differenzierte Betrachtung der verschiedenen Aspekte rund um die Doppelresidenz, dass deren weiterer Verbreitung neben gesetzgeberischen Defiziten vor allem unhinterfragte Vorannahmen und Vorurteile im Wege stehen
Spätestens seit 2013 Prof. Dr. jur. Hildegund Sünderhauf ihr Buch „Wechselmodell – Psychologie, Recht, Praxis“[1] veröffentlicht hat, wird auch in Deutschland zunehmend darüber diskutiert, ob das meist praktizierte Residenzmodell den Anforderungen von Eltern und Kindern gerecht wird oder überhaupt jemals wurde.
Die Bewertung von Vor- oder Nachteil der Doppelresidenz hängt häufig vom eigenen Standpunkt und Motivation ab. Vater, Mutter, Kind, aber auch Fachkräfte und Professionen können hier ganz unterschiedliche Betrachtungswinkel auf ein und denselben Sachverhalt haben, wobei das Wohlergehen des Kindes hierbei nicht bei jeder Betrachtungsweise im Mittelpunkt stehen muss.
In einigen Fällen kann die Fixierung auf das Residenzmodell sogar zu einer Gefährdung von Kindern führen. Es braucht ein verändertes Bewusstsein, um vorurteilsfrei gute Lösungen zu finden. Dabei kann die Doppelresidenz viel häufiger als bisher gelebt eine win-win-win-Lösung sein.
Es beginnt bereits bei den Begrifflichkeiten und den damit verbundenen Vorstellungen. Das Wechselmodell wird häufig abgelehnt, da die vielen Wechsel die Kinder zu sehr belasten würden. Dies ist auch einer der am häufigsten genannten Ablehnungsgründe gegen das Wechselmodell, die im Rahmen einer Studie[2] des Instituts Allensbach im Auftrag des Bundesfamilienministeriums genannt wurden.
Betrachtet man aber Residenz- und Wechsel-/ Doppelresidenzmodell einmal objektiv, wird man feststellen, dass die Doppelresidenz häufig gleich viel oder weniger Wechsel hat als das Residenzmodell.
Korrekt müsste also das Residenzmodell mit erweitertem Umgang „Wechselmodell“ heißen.
Aus diesem Grund wird im weiteren Text der Begriff Doppelresidenz verwendet, wenn es darum geht, von einem Betreuungsmodell zu sprechen, welches die umfangreiche Betreuung der Kinder in Alltag und Freizeit durch beide Eltern bis hin zur paritätischen Betreuung von 50% bei jedem Elternteil meint.
Auch die Wechsel an sich müssen differenziert betrachtet werden. Zum einen gibt es in jedem Betreuungsmodell Wechsel (Ausnahme: Kontaktabbruch) – sie sind die Folge der Tatsache, dass die Eltern sich getrennt haben. Wechsel stellen für Kinder eine Anpassungsleistung beim Übergang von einem zum anderen Elternteil dar.
Dem gegenüber steht für Kinder aber der Mehrwert, Kontakt mit beiden Eltern zu haben, die Beziehung zu ihnen zu pflegen und auch von den Ressourcen beider Eltern (emotional, intellektuell, wirtschaftlich) profitieren zu können. Jugendliche und junge Erwachsene bewerten solche Anpassungsleistungen häufig zwar als eine Herausforderung, die es gleichzeitig aber wert gewesen sei, um die Beziehung zu beiden Eltern zu erhalten [3] [4].
Auch für Eltern bedeutet jeder Wechsel zum einen ein emotional zu bewältigender Abschied, welcher auch Auswirkungen auf die Reaktionen der Kinder haben kann. Er bedeutet aber auch eine Veränderung ihres eigenen Alltags zwischen „Kinderlos“ und „Elternteil“ mit in beiden Fällen verbundenen Vor- und Nachteilen und Anpassungsleistungen, was viel zu oft übersehen wird.
Steht auf der einen Seite die Freude darüber, sein Kind um sich zu haben und Familienzeit verbringen zu können, bedeutet es auf der anderen Seite auch, weniger Freizeit für sich selbst, Freunde, Hobbies oder Arbeit und mehr Aufwand zur Betreuung zu haben.
Die Doppelresidenz hat direkte Auswirkungen auf die Arbeitswelt, vor allem, da gut ausgebildete, qualifizierte Mitarbeiter nur noch eingeschränkt zur Verfügung stehen. Sie müssen den Spagat zwischen Vereinbarkeit von Beruf und Familie stemmen – so wie Mütter dies schon lange tun. Für Väter ist dies in der Arbeitswelt eher neu.
Für Arbeitgeber werden also insbesondere Männer / Väter zunehmend zum unternehmerischen Risiko, wenn diese sich verstärkt in die Betreuung der Kinder einbringen. Das Investment von Arbeitgebern in Ausbildung und Qualifizierung in den immer verfügbaren Mann und Vater ist damit gefährdet. Gleiches gilt übrigens auch für die Frage der Elternzeit nach der Geburt des Kindes, in die sich Väter immer stärker einbringen[5]. Der Anteil von Vätern im Elterngeldbezug stieg von 21,2% im Jahr 2008 auf 38,8% im Jahr 2016.
So befremdlich diese Sicht im ersten Moment scheinen mag, umso deutlicher wird der Mehrwert der Doppelresidenz, wenn er aus Sicht von Müttern betrachtet wird.
Diese wurden bisher für anspruchsvolle Stellen von Arbeitgebern weniger berücksichtigt. Ihr „Schwangerschafts- und Mutterschaftsrisiko“ war für Arbeitgeber immer präsent, eine Karriereförderung von Frauen unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten weniger rentabel. Gerade bei „Alleinerziehenden“ steigt dieses Risiko für den Arbeitgeber noch einmal an, da hier kein zweiter Elternteil als backup zur Verfügung steht.
Die Doppelresidenz bedeutet für beide Eltern gleiche Risiken und Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Für Arbeitgeber würde eine größere Verbreitung der Doppelresidenz, und natürlich auch der gemeinsam wahrgenommenen elterlichen Verantwortung von Anfang an, bedeuten, dass eine Unterscheidung zwischen Mann und Frau bei der Auswahl und Förderung von Mitarbeitenden überflüssig werden würde, wenn beide dasselbe „Elternschaftsrisiko“ für den Arbeitgeber bedeuten würden. Hiervon würden insbesondere Frauen und Mütter profitieren.[6]
Die Doppelresidenz kann damit einen substantiellen Beitrag zur Gleichberechtigung von Frauen am Arbeitsmarkt und damit zur Verringerung des Gender-Pay- und Gender-Pension-Gaps leisten. Im gleichen Maße würde die Wahrnehmung von Vätern in der Familie gestärkt. Was für uns in Deutschland noch revolutionär klingen mag, ist, nicht nur in den skandinavischen Ländern, schon lange gelebte Realität mit deutlichen Vorteilen in Bezug auf die Gleichberechtigung von Mann und Frau, wie auch vergleichende OECD-Studien ergaben. [7] [8]
Auch für Kinder bedeutet die Erwerbstätigkeit beider Eltern Vorteile. Nicht nur, dass sie weniger von Armut bedroht sind (Alleinerziehende haben mit das höchste Armutsrisiko[9]). Kinder beklagen auch die geringsten Zuwendungsdefizite, wenn beide Eltern erwerbsbeteiligt sind[10].
Dies dürfte nicht allein der besseren materiellen Situation zuzuschreiben sein, sondern auch, dass in der Regel beide Eltern für die Betreuung und Versorgung der Kinder verantwortlich sind und die Kinder Zeit mit beiden Eltern verbringen können.
Nachteile hat die Doppelresidenz hauptsächlich für Väter, welche Zeit und Verdienstmöglichkeiten einbüßen und sich in einem größeren Feld von Mitbewerbenden um qualifizierte Positionen wiederfinden. Studienergebnisse deuten aber darauf hin, dass Männer diese Eingeständnisse zugunsten der Gleichberechtigung von Frauen gerne akzeptieren[11], wenn dies einher geht mit der Anerkennung ihrer Rolle in der Familie.
Streit nach einer Trennung entsteht häufig auch durch unterschiedliche Machtverhältnisse zwischen Eltern. Der eine bestimmt mehr oder hat mehr Einfluss, der andere fühlt sich zurückgesetzt und unterlegen. Eine Ausgangslage, die den Streit häufig hervorbringen kann oder gar verschärft, insbesondere in einer Situation (Trennung), in der die beteiligten Elternteile oftmals sowieso einen Konflikt austragen. Das Kind als einziges, nicht trennbares, Bindeglied rückt damit zwangsläufig in den Fokus des Geschehens.
Studien haben gezeigt, dass das in Deutschland meist gelebte Residenzmodell die Betreuungsform mit dem höchsten Konfliktpotential ist[12]. Die Doppelresidenz hingegen bietet deutlich bessere Chancen, mittel- und langfristig zur Deeskalation beizutragen und den Elternkonflikt zu beruhigen. Dies bestätigen auch Untersuchungen aus Australien, welche die Doppelresidenz 2006 als familienrechtliches Leitbild etabliert haben. Bereits innerhalb von 3 Jahren nach der Gesetzesänderung ging der Anteil an hochstrittigen Eltern massiv zurück[13].
Eltern mit Shared-Time-Betreuung, unterteilt nach Qualität der Elternbeziehung (in %) | 2006 | 2008 | 2009 |
---|---|---|---|
Freundlich kooperativ | 51 | 58 | 59 |
Hochstrittig | 32 | 21 | 19 |
Distanziert | 17 | 21 | 21 |
So ist es wenig verwunderlich, dass Eltern, die die Doppelresidenz auch in Deutschland leben, in 93% der befragten Fälle zufrieden oder sehr zufrieden sind. Dies galt selbst dann, wenn die Eltern sich über die Ausübung der Doppelresidenz anfangs nicht einig waren.
Auf alle Eltern bezogen betrug die Zufriedenheit mit dem Betreuungsmodell hingegen lediglich 36% (Wunschvorstellung) bzw. 40% (akzeptable Lösung)2.
Das anhaltender Streit zwischen den Eltern für Kinder ein erhebliches Entwicklungsrisiko darstellt, wurde umfangreich nachgewiesen[14] und ist ein in der Beratungspraxis bei hochstrittigen Eltern leider immer wieder schmerzlich zu beobachtender Umstand. Eine Reduzierung des Streits ist damit aktiver Kinderschutz.
Auch die Gesellschaft profitiert von weniger Streit zwischen Trennungseltern. Weniger Gerichtsverfahren, weniger psychosomatische Auffälligkeiten, weniger Ausfalltage in der Arbeitswelt – volkswirtschaftlich ist jeder vermiedene Streit ein Gewinn[15], zu dem die Doppelresidenz einen erheblichen Anteil beisteuern kann.
Nicht verschwiegen werden aber darf, dass es auch Beweggründe geben kann, die genau von einer solchen Deeskalation entgegenstehen. Hierzu können z.B. betreuende Elternteile, Anwälte oder auch Gutachter zählen, die vom „Streit als Strategie“ zur Verhinderung der Doppelresidenz profitieren. Ihre Mandate und Aufträge und damit ihre Verdienstmöglichkeiten hängen direkt vom Streitniveau der Eltern ab – an sich einigenden Eltern wird nichts verdient.
Bestätigt wurde dies bereits in anderen Ländern, in denen sich genau die Berufsgruppen, die am Streit am meisten verdienen, am engagiertesten gegen die Doppelresidenz aussprachen[16]. Dies soll nicht den meist konsensorientierten Einsatz von vielen Anwälten und Gutachtern schmälern, sondern den Blick dafür öffnen, dass es auch Fehlanreize geben kann, die den Streit zwischen den Eltern eskalieren lassen können.
In diesem Zusammenhang muss auf die besondere Verantwortung hingewiesen werden, die den beteiligten Fachkräften, und hier insbesondere den Familienrichtern[17], als Dompteure im Konflikt, zukommt. Solange nicht differenziert wird, welcher Elternteil den Streit eskaliert und welcher um Deeskalation bemüht ist, solange wird „Streit als Strategie“ weiterhin zum Erfolg führen. Fachkräfte laufen hier Gefahr, durch ihr Handeln selbst eine sekundäre Kindeswohlgefährdung hervorzurufen. [18]
Formulierungen wie „die Eltern können sich nicht einigen“ sind hier wenig hilfreich und unterstellen quasi eine Symbiose zwischen den Eltern. Klare Differenzierungen zwischen dem Verhalten eines jeden Elternteils können zu einer deutlich differenzierteren und tatsächlich am Wohlergehen des Kindes orientierten Entscheidungsfindung beitragen[19]. Auch ist es wenig hilfreich, ein Kind bei dem die Doppelresidenz ablehnenden Elternteil zu belassen, der den Streit eskaliert, damit das Kind belastet und sich auf die von ihm selbst geschaffenen Argumente „Streit“ und „Kommunikation“ beruft[20]. So würden dem Missbrauch elterlicher Verantwortung Tür und Tor geöffnet werden.
Ausgeräumt werden muss auch das Vorurteil, dass die Doppelresidenz nicht möglich wäre, wenn die Eltern sich im intensiven Streit befinden.
Unbestritten ist zwar, dass die Kinder unter dem Streit der Eltern leiden. Dies gilt allerdings für jedes Betreuungsmodell – im Residenzmodell ergeht es ihnen allerdings nachweisbar schlechter als beim Leben in der Doppelresidenz, wie die Auswertung von 60 internationalen Studien[21] ergeben hat. Dieser Effekt war zudem unabhängig vom wirtschaftlichen Status der Eltern.
Folgerichtig hat beispielsweise auch das OLG Bamberg[22] die Doppelresidenz in einem strittigen Fall angeordnet, da sie dem „Prinzip der Schadenminderung“ entspricht. Es kam zu diesem Ergebnis, da es viele der Erkenntnisse zur Doppelresidenz, die auch hier in dem Artikel niedergelegt sind, ins Verhältnis zu den Erkenntnissen zum Residenzmodell gesetzt hatte. Ein Ansatz, der in der Praxis öfter angewandt werden sollte, anstatt die häufig unhinterfragten Vorbehalte gegen die Doppelresidenz zu übernehmen.
Im Streitfall sollte der Doppelresidenz der Vorzug gegeben werden, solange beide Eltern grundsätzlich erziehungsfähig sind (fit & loving) und eine gewisse räumliche Nähe besteht. So kann auch einer Entfremdung von einem Elternteil in gewissem Rahmen vorgebeugt werden.
Insbesondere Väter äußern die Sorge, dass sie nach einer Trennung den Kontakt zu ihren Kindern verlieren könnten. Hier gibt es tatsächlich eine traurige Tradition in Deutschland, dass überproportional viele Kinder (zwischen 20 – 40%) nach einer Trennung den Kontakt zu einem Elternteil, meist zu ihren Vätern, verlieren. Die Doppelresidenz beugt dem vor und erhält Eltern und Kindern den Kontakt sowohl in Alltag und Freizeit.
Nur sehr eingeschränkt gilt dies allerdings in Fällen, in denen ein Elternteil (oder beide) die Kinder gegen den anderen Elternteil aktiv oder passiv beeinflusst und instrumentalisiert (induzierte Eltern-Kind-Entfremdung). Zwar sichert auch in solchen Fällen die Doppelresidenz den Kontakt zu beiden Eltern. Die Kinder sind aber weiterhin den Belastungen durch die Beeinflussung und Instrumentalisierung ausgesetzt.
In solchen Fällen spricht man von einer induzierten Eltern-Kind-Entfremdung, auch Parental Alienation, genannt. Hierbei handelt es sich um eine ernstzunehmende Form emotionalen /psychischen Kindesmissbrauchs[23]. Die Doppelresidenz kann zwar den Verlauf verlangsamen. Hierbei handelt es sich mittel- und langfristig aber nicht um eine Frage Doppelresidenz ja oder nein, sondern um eine Frage des Kinderschutzes, die auch einen erweiterten Umgang ausschließen würde.
Entscheidend ist in solchen Fällen der Faktor Zeit, denn Zeit schafft Fakten. Auch hier laufen Fachkräfte Gefahr, durch eine einseitige Festlegung meist auf den überwiegend betreuenden Elternteil einer Entfremdung Vorschub zu leisten und an einer unbewussten, sekundären Kindeswohlgefährdung18 mitzuwirken. Die Doppelresidenz kann in solchen Fällen gerade in der Anfangszeit eine sinnvolle Alternative sein. Zum einen wird so verhindert, dass ein Elternteil übermäßig stark auf die Kinder einwirken kann und die Kinder sich weiterhin auch ein eigenes Bild von beiden Eltern machen können und nicht auf das häufige Zerrbild durch den überwiegend betreuenden Elternteil angewiesen sind. Zum anderen erhält die Doppelresidenz auch die Möglichkeit, in begründeten, notwendigen Fällen einen Obhutswechsel ohne allzu große Belastungen für die Kinder vornehmen zu können.
Eine enorme Hilfe in der Einschätzung der Belastungs- und Gefährdungssituationen von Kindern in solch strittigen Trennungssituationen kann das KiMiss-Instrument[24] sein, welches vom KiMiss-Institut der Universität Tübingen[25] entwickelt und kürzlich veröffentlicht wurde. Dort kann anhand von verschiedenen Merkmalen einfach ermittelt werden, in welchem Umfang durch elterliche Belastungsfaktoren ein Verlust des Kindeswohls auftritt. Hier wurde ein Instrument geschaffen, mit dem eine gewisse Objektivierbarkeit solch schwieriger Sachverhalte ermöglicht wird.
Wichtig in solchen Fällen ist vor allem, dass das Kind nicht schutzlos bei dem Elternteil verbleibt, der die Belastung und Entfremdung des Kindes hervorruft. Wenn in solchen Fällen mit dem Argument „das Kind muss zur Ruhe kommen“ argumentiert wird, dann sollte sehr genau überlegt werden, wo das Kind tatsächlich Ruhe und förderliche Entwicklungsbedingungen, auch zum Bindungserhalt zu beiden Elternteilen, findet.
Eine falsche Intervention würde hier zu einer „Friedhofsruhe“ führen und das Kind seinem Schicksal bei einem emotional missbrauchenden Elternteil überlassen werden, obwohl es eigentlich Schutz benötigen würde[26].
Ein schicksalhaftes Beispiel hierzu lieferte der ARD-Spielfilm „Weil Du mir gehörst“[27], welcher jeder Fachkraft als mahnendes Beispiel ans Herz zu legen ist. Über das vorgenannte KiMiss-Instrument konnten allein in diesem Film 39 Items identifiziert werden, die vor den Augen der Fachkräfte das Wohlergehen des Kindes nachhaltig belasteten und zu einem vollständigen Verlust des Kindeswohls geführt hätten.
Aber selbst in solch verfahrenen Situationen kann, mit Blick auf eine langfristige Entwicklung, bei entsprechender Einsichtsfähigkeit eine Doppelresidenz in den Blick genommen werden, wie ich in einem Beitrag[28] auf doppelresidenz.org beschrieben hatte.
Wie beim Thema Streit herrscht oft die Ansicht, dass die Doppelresidenz einen erhöhten Aufwand an Kommunikation und Kooperation bedarf. Dieses in der Praxis kaum nachvollziehbare Mantra hat vor allem in der Rechtsprechung zu mittlerweile schon fast absurd anmutenden Auswüchsen geführt.
Ab der magischen Schwelle von exakt 50 % sollen die Eltern dann täglich, hochmotiviert und intensiv kommunizieren müssen, keine Streitpunkte haben und ein einheitliches Erziehungskonzept leben, ansonsten wäre die Doppelresidenz nicht anordbar[29]. Hand aufs Herz, damit würden selbst 90% der zusammenlebenden Eltern die Anforderungen nicht erfüllen.
In der Praxis lässt sich dies einfacher lösen. Keine Kommunikation ist notwendig, wenn der Kontakt zu einem Elternteil abgebrochen ist – mit all den negativen Folgen für die Entwicklung der Kinder. Dies ist also keine sinnvolle Option.
Bei allen weiteren Betreuungsmodellen müssen Eltern kommunizieren, vor allem im Rahmen der Wechsel. Nur, wo ist der Mehraufwand im Rahmen der Doppelresidenz, die häufig sogar weniger Wechsel aufweist?
Selbst für einen Wochenendumgang muss geklärt werden, welche Hausaufgaben zu machen sind, was gesundheitlich zu beachten ist oder welche anderen Verpflichtungen des Kindes unter Umständen zu beachten sind. Der „Umgangs-Elternteil“ muss zudem entsprechende Kleidungsanforderungen stellen, wenn es zum Schwimmen geht oder zu anderen Aktivitäten. Dies entfällt häufig, wenn das Kind in beiden Haushalten entsprechende Ausstattung hat – also meist in der Doppelresidenz.
Gibt es zwischen den Eltern Probleme in der Kommunikation und Kooperation, dann ist dies kein Grund, die Doppelresidenz auszuschließen, sondern den Eltern muss ein entsprechender Rahmen gegeben werden, den sie ausfüllen können.
Die Beratungspraxis hat hier seit langem entsprechende Werkzeuge – die parallele Elternschaft. Umgangsbuch, unpersönliche Übergaben und klare Zuordnung von Verantwortlichkeiten können den Kommunikationsbedarf zwischen den Eltern erheblich reduzieren. Besteht die Befürchtung, dass die Kommunikation zwischen den Eltern auch so eskalieren könnte, wäre es z.B. im Rahmen einer Beratung oder einer Umgangspflegschaft eine einfache Möglichkeit, die Kommunikation der Eltern auf eine eigene whatsapp-Gruppe zu beschränken – in der dann auch der Berater oder Umgangspfleger eingebunden ist und mitlesen und moderieren könnte. Allein die Tatsache, dass ein Dritter mitlesen oder die Kommunikation beim nächsten Beratungsgespräch thematisiert werden könnte, wirkt oftmals schon wunder.
So lässt sich auch eine weitere Besonderheit aushebeln, die oftmals im Zusammenhang mit der Doppelresidenz festzustellen ist: die bewusste Kommunikationsverweigerung des betreuenden Elternteils.
Dieser fordert dann selbst unter Berufung auf die Kommunikationsprobleme, die Doppelresidenz aufgrund der nicht stattfindenden Kommunikation und Kooperation abzulehnen. Leider wird diesem offensichtlichen, verfahrenstaktischen Missbrauch der elterlichen Verantwortung viel zu häufig gefolgt.
Hilfreich können in solchen Fällen die beiden folgenden Zitate sein (BT Drucks 17/11048 zur Neuregelung der gemeinsamen Sorge nicht mit der Mutter verheirateter Väter):
„Dabei kann jedoch nicht bereits die Ablehnung einer gemeinsamen Sorge durch die Kindesmutter die Annahme begründen, dass in einem solchen Fall die gemeinsame Sorge dem Kindeswohl widerspricht, denn dann hätte es die Mutter nach wie vor allein in der Hand, ob es zu einer gemeinsamen Sorgetragung kommt oder nicht.“ […] Außerdem gilt, dass „beide Elternteile aufgerufen sind zu lernen, ihre persönlichen Konflikte, die auf der Paarebene zwischen ihnen bestehen mögen, beiseite zu lassen und um des Wohls ihres Kindes willen sachlich und, soweit das Kind betroffen ist, konstruktiv miteinander umzugehen. Sie sind mithin gehalten, sich um des Kindes willen, notfalls unter Inanspruchnahme fachkundiger Hilfe von außen, um eine angemessene Kommunikation zu bemühen.“ […] „Auch schon manifest gewordene Kommunikationsschwierigkeiten rechtfertigen für sich genommen nicht per se eine Ablehnung der gemeinsamen Sorge, da von den Eltern zu erwarten ist, dass sie Mühen und Anstrengungen auf sich nehmen, um im Bereich der elterlichen Sorge zu gemeinsamen Lösungen im Interesse des Kindes zu gelangen.“[30]
und bei Dettenborn & Walter[31]:
„… die elterliche Kooperation und die Bindungstoleranz stehen in Wechselbeziehung. Fehlt es an Kooperationsfähigkeit oder -bereitschaft, ist in der Regel auch die Bereitschaft begrenzt, bestehende Bindungen des Kindes zu anderen Personen zu tolerieren und zu fördern. … Muss letztlich die Übertragung der Alleinsorge auf einen Elternteil geprüft werden, stellt sich die Frage der Kooperationsfähigkeit nochmals. […] In Abwägung mit anderen Sorgerechtskriterien hat der Elternteil Vorteile, die Alleinsorge zu erhalten, der Konflikt vermeidend wirkt, den Konsens sucht oder Schritte zur positiven Veränderung einleitet.“
Mit einem Hinweis auf die beiden vorgenannten Ausführungen lassen sich in vielen Fällen wundersame Veränderungen bei Eltern erreichen. Wenn auf einmal zur Diskussion steht, dass der Lebensmittelpunkt des Kindes auch im Haushalt des anderen Elternteils liegen könnte – die Motivation zur Kommunikationsverweigerung wäre damit nicht mehr vorhanden. Wo vorher im Raum stand, dass keinerlei Kommunikation möglich und zumutbar wäre, finden sich auf einmal motivierte, kommunikationsfähige- und -bereite Eltern vor. So war es auch in einem Fall, den das OLG Brandenburg[32] zu entscheiden hatte – eine gerichtliche Entscheidung war letztlich überhaupt nicht mehr notwendig.
Hier sei rückblickend an die Diskussion um das gemeinsame Sorgerecht erinnert – seinerzeit wurden dieselben Argumentationen verwendet wie heute gegen die Doppelresidenz. Das gemeinsame Sorgerecht hat sich, allen Befürchtungen zum Trotz, bewährt, wie eine umfangreiche Evaluation ergeben hat[33].
Festzuhalten bleibt, dass es immer positiv ist, wenn Eltern gut kommunizieren und kooperieren können. Dies gilt allerdings in jedem Betreuungsmodell. Die Anforderungen an die Doppelresidenz sind hierbei nicht höher als in anderen Betreuungsmodellen. Bei Schwierigkeiten sollte nicht ein Betreuungsmodell ausgeschlossen, sondern den Eltern die richtigen Werkzeuge an die Hand gegeben werden. Letztlich ist jede Form der parallelen Elternschaft die bessere Alternative, als wenn Kinder dem Streit zwischen den Eltern direkt ausgesetzt wären.
In Gesprächen ist öfters, gerade von Müttern, die Sorge zu hören, dass die Kinder sie weniger lieben könnten und die Bindung zu ihnen verloren geht, wenn sie weniger Zeit mit den Kindern haben. Diese menschlich sehr verständliche Sorge ist aber unbegründet. Es hat sich sehr deutlich gezeigt, dass im Gegenteil die Doppelresidenz die Bindung an beide Eltern stärkt[34]. In Bezug auf die Bindung der Kinder an die Eltern gibt es durch die Doppelresidenz ausschließlich Vorteile.
Ausschlaggebend für die gesunde Entwicklung von Kindern ist sicherlich in erster Linie das Verhalten der Eltern. Sind diese selbst ausgeglichen, fürsorglich, dem Kind auch emotional zugewandt und an seinen Interessen und Bedürfnissen interessiert, geht es Kindern in vielen Betreuungsmodellen gut. Dies gilt insbesondere, wenn beide Eltern nicht nur die nötige Bindungstoleranz, sondern darüber hinaus umfangreiche Bindungsfürsorge[35] aufbringen können. In solchen Konstellationen fällt es Kindern auch leichter, die Folgen der Trennung der Eltern zu verarbeiten.
All diese sehr wünschenswerten Umstände gelten aber gleichermaßen für alle Betreuungsmodelle. Im Vergleich der Betreuungsmodelle zeigt sich, dass sich Kinder in der Doppelresidenz nach Kindern zusammenlebender Eltern mit deutlichem Abstand am besten entwickeln, wenn sie möglichst viel Zeit mit beiden Eltern verbringen[36]. Das in Deutschland noch am häufigsten praktizierte Residenzmodell folgt hier mit deutlichem Abstand vor Betreuungsmodellen, bei denen der Kontakt zu einem Elternteil abgebrochen ist.
Abbildung 3 Auswirkung der Betreuungsmodelle auf Mädchen (Jungen vergleichbar), Quelle: Malin Bergström et al. Epidemical Community Health 2015, eigene Grafik
Egal ob schulische Entwicklung, Depressionen, Schlafprobleme, Stress oder andere, auch psychosomatische Beschwerden – je mehr Kontakt Kinder nach einer Trennung zu beiden Eltern haben, desto besser entwickeln sie sich in der Regel. Auch was die Neigung zu Alkohol, Drogen, selbstverletzendem Verhalten angeht, so sind diese bei Kindern, die in Doppelresidenz leben, erheblich geringer ausgeprägt.
Die größte Datenbasis zu diesen Fragen stammt aus Schweden. Dort hat man den Vorteil, dass aufgrund der sehr positiven Rahmenbedingungen für Forschungsvorhaben ganze Jahrgänge von Kindern untersucht werden können – Stichprobengrößen von über 150.000 Kindern in unterschiedlichen Altersbereichen liefern valide Daten. Dass diese Ergebnisse sich in anderen Ländern, wenn auch bei kleineren Stichprobengrößen, bestätigen zeigt, dass nationale Unterschiede weit geringer ausgeprägt sind, als von einigen angenommen wird.
Nur wie beurteilen Kinder ihr Leben mit ihren getrennten Eltern in unterschiedlichen Betreuungsmodellen, wenn sie zu jungen Erwachsenen werden? Der Frage sind unter anderem norwegische Forscher um Sondre Aasen Nilsen 4 nachgegangen. Wuchsen Kinder in Doppelresidenz auf, waren kaum Unterschiede zu Kindern zusammenlebender Eltern festzustellen – teilweise entwickelten sie sich sogar besser als diese. Mit deutlichem Abstand folgten Jugendliche, die im Residenzmodell aufwuchsen.
Festzuhalten bleibt vor allem eine Erkenntnis: Kinder, die in der Doppelresidenz aufwachsen, entwickeln sich in der Regel in keinem Bereich schlechter als im Residenzmodell – dafür in sehr vielen Bereichen aber besser oder deutlich besser.
Hiervon mag es in der Praxis sicherlich immer wieder auch Ausnahmen von der statistischen Regel geben – diese sind dann meist weniger im Betreuungsmodell, als mehr im defizitären Verhalten eines oder beider Elternteile verankert.
Geht es den Eltern gut, geht es auch den Kindern gut. Vor dem Hintergrund lohnt es sich, auch einen Blick auf die Eltern zu werfen. Auch hier haben Studien ergeben, dass auch Eltern von der Doppelresidenz profitieren können[37].
Abbildung 4 Belastungen der Eltern in unterschiedlichen Betreuungsmodellen (höhere Werte stehen für größere Unzufriedenheit / Probleme. Quelle: Malin Bergströmet al. Mental health in Swedish children living in joint physical custody and their parents life satisfaction. A cross-sectional study, 2014, eigene Grafik
Auch die wirtschaftliche Situation, insbesondere für Mütter, ist besser, je mehr sich beide Eltern die Betreuung der Kinder möglichst paritätisch aufteilen[38].
Werte in % | Erwerbsbeteiligung Mütter | Armutsrisiko | ||
---|---|---|---|---|
Alter der Kinder | 0–8 Jahre | 9–17 Jahre | 0–8 Jahre | 9–17 Jahre |
Kernfamilien | 57,7 | 74,7 | 6,7 | 14,5 |
Wechselmodell | 83,3 | 85,2 | 27,8 | 14,8 |
Residenzmodell, häufiger Kontakt | 73,3 | 90,6 | 29,6 | 17,4 |
Residenzmodell, seltener Kontakt | 62,2 | 85,4 | 37,9 | 19,5 |
Kein Kontakt zum Vater | 58,5 | 77,0 | 42,7 | 23,2 |
Abbildung 5 Quelle: Datensatz Aufwachsen in Deutschland (AID:A II)
Hinlänglich bekannt ist auch die Überlastungssituation von Alleinerziehenden[39], häufig Müttern, die Beruf, Alltag, Schule, Freizeit, Haushalt & Co tatsächlich alleine bewältigen müssen. Der sogenannte „Alleinerziehenden-Burnout“ kann aber verhindert werden, wenn die Verantwortung für die Betreuung der Kinder gleichermaßen auf beide Eltern verteilt wird.
Die elterliche Sorge nicht nur ein Recht, sondern auch eine gemeinsame Pflicht ist. Zu oft wird widerspruchslos akzeptiert, dass sich ein Elternteil aus seiner Betreuungsverantwortung mehr oder weniger zurückzieht und seine Verpflichtung quasi nur noch über die Zahlung von Kindesunterhalt erfüllt.
Die Praxis zeigt aber, dass ein aktives Ansprechen und Einfordern gemeinsamer Elternverantwortung doch immer wieder positive Ergebnisse erzielen kann. Gemeinsame Elternverantwortung ist kein Wunschkonzert, bei der sich ein Elternteil auf Kosten des anderen nach Belieben aus der Verantwortung entziehen kann.
Hierbei muss auf ein weiteres, häufig zu hörendes, Vorurteil hingewiesen werden: ein Elternteil könnte ja nicht zur Betreuung verpflichtet werden. Hierzu wird auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts[40] aus 2008 verwiesen. Dies bezieht sich allerdings nur auf Elternteile, die nachdrücklich jeglichen Kontakt zu ihrem Kind ablehnen. Wo also Umgang stattfindet, kann auch die Verpflichtung zu mehr Betreuung eingefordert werden.
Wünschenswert wäre es, wenn mehr über das Thema gesprochen wird und beispielsweise „Alleinerziehende“ aktiv die Doppelresidenz einfordern und hierbei auch von Fachkräften, bis hin zu den Familiengerichten, unterstützt werden. Beide Eltern haben dieselben Rechte und Pflichten – im Zweifelsfall also zur Doppelresidenz.
In diesem Zusammenhang sollte auch die bisherige Sprach-Praxis überdacht werden, denn Sprache schafft Wahrnehmung. Sind die bisher als „Alleinerziehend“ bezeichneten tatsächlich alleinerziehend? In der Praxis sind sie doch meist eher „gemeinsam erziehend“ oder „getrennt erziehend“, weshalb ich eindringlich für diese Begriffe plädiere, wenn sich beide Eltern in die Betreuungs- und Erziehungsarbeit einbringen. Diese Begriffe öffnen auch eher den Weg zu „gemeinsamen“ Lösungen, als wenn ein Elternteil „allein“ über das Kind bestimmt.
Auf der anderen Seite, meist der Väter, gibt es diejenigen, die sich gerne mehr einbringen würden, aber auf die Rolle des „Zahlvaters“ und „Wochenend-Papas“ reduziert werden – eine Rolle, die für viele liebende Elternteile unbefriedigend ist und damit auch zu Problemen führen kann.
In einem für das Familienministerium in Nordrhein-Westfalen produzierten Film beschreibt dort eine Mutter ihre Gedankengänge zur Entscheidungsfindung zu einer Betreuungslösung recht zutreffend:
„Es gab bei uns auch die Besonderheit das es im Raum stand, dass die Kinder vorwiegend beim Vater leben und ich sie nur selten sehe und ich dann Unterhalt zahlen soll. Ich muss sagen, dass wäre mir so vorgekommen wie eine doppelte Bestrafung“.[41]
Diese Familie hat dann unter Berücksichtigung der berechtigten Perspektiven beider Eltern fast automatisch den Weg zur Doppelresidenz gefunden.
Betrachtet man die Doppelresidenz aus der Sicht der Eltern im traditionellen Rollenbild, ergibt sich eine auf den ersten Blick erstaunliche Konstellation.
Für Mütter bedeutet die Doppelresidenz eine Entlastung in der Betreuungsarbeit, die ihnen mehr Freiraum für private Aktivitäten und berufliche Ambitionen ermöglicht. Dies bedeutet auch, einem geringeren Armutsrisiko ausgesetzt zu sein, bessere Chancen zu haben, ein eigenes, existenzsicherndes Einkommen zu erwirtschaften und ausreichend eigene Rentenansprüche zu erwirtschaften.
Bei den Vätern hingegen bedeutet die Doppelresidenz im Vergleich zum traditionellen Residenzmodell berufliche Einschränkungen, teils verbunden mit finanziellen Einbußen, weniger zur Verfügung stehende Zeit und höhere Kosten für die Versorgung und Betreuung der Kinder.
So betrachtet verwundert es, dass in Deutschland vor allem Väter sich verstärkt für die Doppelresidenz einsetzen. In anderen Ländern wie z.B. Island, Belgien, Spanien, Türkei, Korea oder Iran sind es vor allem Frauen, die die Doppelresidenz fordern – als Frauenrechts- und Gleichberechtigungsfrage oder aber auch aus anderen Rollenverhältnissen, damit auch Mütter nach einer Trennung weiterhin am Leben ihrer Kinder teilhaben können[42].
Die Erklärung mag recht einfach sein: beide Eltern lieben ihre Kinder und ein Perspektivwechsel kann hier oftmals Hilfreich sein. So wurde in einem Artikel als Nachteil der Doppelresidenz angeführt:
„Jedes Elternteil muss verkraften, das Kind über einen längeren Zeitraum nicht zu sehen und in dieser Zeit auch kaum an seinem Leben teilzuhaben“[43].
Die Aussage an sich ist nicht zu beanstanden, nur ist dies kein Nachteil, sondern ein Vorteil der Doppelresidenz. Im klassischen Residenzmodell (alle 14 Tage am Wochenende) vermisst ein Elternteil das Kind 12 Tage lang – und das Kind auch diesen Elternteil. Um dies zu erkennen ist es wichtig, den bisher häufig allein auf den betreuenden Elternteil gelegten Fokus zu erweitern auf das gesamte Familiensystem. Hier sind nicht nur die Eltern, sondern auch die sie beratenden und unterstützenden Fachkräfte gefordert, eigene Ansichten zu hinterfragen und zu überprüfen.
„Bei Geld hört die Freundschaft auf“ ist ein geflügelter Begriff und bei der Frage, weshalb die Doppelresidenz abgelehnt wird, sind finanzielle Gründe häufig der eigentliche Beweggrund, auch wenn von jeder Seite vordergründig mit dem „Kindeswohl“ argumentiert wird.
Aufmerksam werden sollten man, wenn dem anderen Elternteil zwar problemlos 4, 5 oder 6 Tage (bezogen auf 14 Tage) Betreuung zugetraut werden, dann aber vehement mit dem „Kindeswohl“ gegen eine paritätische Elternschaft argumentiert wird. Hier werden teils abenteuerliche Begründungen wie Händewaschen, Tischmanieren oder ähnliches angeführt um zu beweisen, dass eine paritätische Elternschaft nicht möglich wäre. Dass sich Gerichte hier nicht immer vorführen lassen, bewiesen das AG Calw[44] und das OLG Stuttgart[45] in vorbildlicher Weise.
Allerdings muss man die finanziellen Fragen von beiden Eltern-Seiten durchaus ernst nehmen. Die Unterhaltsrechtsreform von 2008 hat verstärkt auf die finanzielle Eigenverantwortung beider Eltern abgestellt und damit dem „Hausfrauenmodell“ der lebenslangen Versorgung eine Absage erteilt. Dies bezog sich allerdings nur auf die finanziellen Ausgleichsansprüche zwischen den Erwachsenen, Auswirkungen auf den Kindesunterhalt waren damit direkt nicht verbunden.
Betrachtet man sich aber einmal die Zahlen der Umgangsverfahren so stellt man schnell fest, dass diese einen enormen Anstieg ab 2008 nahmen.
Abbildung 6 Entwicklung der gerichtlichen Umgangsverfahren
Der finanzielle Streit der Eltern hat sich durch die gesetzlichen Änderungen im Unterhaltsrecht seitdem leider auf einen Streit um die Kinder verlagert. Ob sich der Gesetzgeber bewusst war, dass er hiermit kindeswohlfremde Fehlanreize[46] zum Streit um die Kinder gesetzt und damit die Kinder massiv belastet hat?
Für die Beratungspraxis ist es jedenfalls wichtig, diesen Zusammenhang zu verstehen und damit die eigentliche Motivlage der Eltern besser beurteilen zu können.
Ausgeräumt werden müssen an dieser Stelle auch mehrere Vorurteile gegenüber der Doppelresidenz im Zusammenhang mit der Unterhaltsfrage.
Auf Seiten des Umgangselternteils ist jeder weitere Aufwand faktisch Privatvergnügen und damit Mehraufwand. Das Kinderzimmer, der Pullover, Verpflegung, Urlaub, Freizeitaktivitäten oder auch berufliche Einschränkungen werden unterhaltsrechtlich in keiner Weise berücksichtigt, solange der Betreuungsanteil unter 50% betrifft. Bei sehr hohen Mitbetreuungsanteilen wird unter Umständen lediglich eine geringe Herabstufung in der Düsseldorfer Tabelle vorgenommen, die bei rund 20 EUR im Monat liegt was- bei weitem nicht den Aufwand deckt.
Erst bei einer Mitbetreuung von exakt 50% wird nach geltender Rechtslage das Einkommen beider Eltern zur Bedarfsermittlung herangezogen und der Aufwand beider Eltern berücksichtigt. Ein „Sparmodell“ ist es aber auch dann für den „Umgangselternteil“ nicht, denn der Aufwand zur Versorgung und Betreuung von Kindern in der Doppelresidenz ist in der Regel deutlich höher als der reine Kindesunterhaltsbetrag.
Anders sieht es auf Seiten des hauptbetreuenden Elternteils aus. Dort bedeutet jede Mitbetreuung durch den Umgangs-Elternteil eine zeitliche und finanzielle Entlastung, ohne dass dies Einfluss auf die Unterhaltszahlung hat. Der finanzielle Optimalfall wäre hier eine 49%ige Mitbetreuung. Fair gegenüber dem mitbetreuenden Elternteil ist dies nicht, weshalb der Gesetzgeber hier aktuell auch Überlegungen anstellt, an diesem Ungleichgewicht etwas zu verändern.
Die vorgenannten Ausführungen verdeutlichen, dass die Frage der Vor- oder Nachteile eines Betreuungsmodells in der eigenen Bewertung nicht unbedingt vom Wohlergehen des Kindes ausgehen müssen.
Nur wie löst man dieses Thema am Besten in der Beratungspraxis?
Ein Beispiel kann das „Rosenheimer Modell“[47] sein, bei dem anhand der Einkommen der Eltern für den jeweiligen Betreuungsanteil (nicht nur bei der Doppelresidenz) Ausgleichszahlungen errechnet und auch Quoten für Sonderkosten wie Klassenfahrten, Zahnspangen oder andere außergewöhnliche, kostspielige Anschaffungen ermittelt werden.
Eine andere Lösung wäre das „Kinderkonto“, auf das beide Eltern einen vereinbarten Betrag sowie das Kindergeld einzahlen. Größere, vorher vereinbarte, Anschaffungen für die Kinder werden von diesem gemeinsamen Konto getätigt, auf das beide Eltern Zugriff haben.
Denkbar ist natürlich auch, dass sich die Eltern darauf verständigen, dass gewissen Zahlungsverpflichtungen von jeweils einem Elternteil bedient werden und auch das Kindergeld einer festen Aufteilung / Verbleib unterliegt und auf diesem Wege ein Ausgleich zwischen den Eltern hergestellt wird.
Ein guter Indikator ist auch, ob der Elternteil, der eine Lösung vorschlägt, diese gegen sich selbst auch gelten lassen würde – er also die Sicht von der anderen Seite des Tisches einnehmen soll.
Wichtig sollte in diesem Zusammenhang sein, dass für beide Eltern faire und vertretbare Lösungen gefunden werden. Finanzielle Fragen sollten einem guten Betreuungsmodell für Kinder nicht im Wege stehen.
Und sollten Eltern in einer Beratung nicht zu einer Lösung kommen empfiehlt es sich, einmal auf die Kosten einer gerichtlichen Unterhaltsklage hinzuweisen. Gerichts- und Anwaltskosten können sich schnell auf 5.000 EUR oder mehr addieren – und die Kosten tragen die Eltern im Verhältnis ihres Obsiegens. Im schlimmsten Fall muss also derjenige, der seine Forderungen überzieht, auf dem Großteil der Kosten tragen. Dem Erfolg, vielleicht 20 EUR im Monat mehr oder weniger erstritten zu haben, können schnell Kosten von 4.000 EUR gegenüberstehen – womit der Erfolg für über 16 Jahre aufgezehrt wäre. Diese Erkenntnis könnte die nächsten Gespräche erfolgreicher gestalten, auch völlig unabhängig vom Betreuungsmodell.
Als Einwand gegen die Doppelresidenz wird teilweise angeführt, dass der betreuende Elternteil dadurch in seiner Flexibilität, z.B. in Bezug auf die Wahl des Wohnortes, eingeschränkt wäre, insbesondere, wenn neue Partnerschaften an anderen Wohnorten hinzukämen.
Der Aspekt ist nicht von der Hand zu weisen, betrifft allerdings weniger die Doppelresidenz an sich, sondern die Verantwortung dem Kind gegenüber und gilt in jedem Betreuungsmodell mit mehr als Wochenendumgang. Für ein Kind bedeutet insbesondere ein weiter entfernter Umzug neben dem (teilweisen) Verlust eines Elternteils den Verlust seines sozial und vertrauten Umfeldes. Ein Umzug ist also eine auch für das Kind weitreichende Entscheidung und so ist es auch nachvollziehbar, dass auch Gerichte in Fällen, in denen ein Umzug eher an Elterninteressen orientiert oder verfahrenstaktischer Natur zu sein scheint anordnen, dass dem Kind eher sein soziales Umfeld – dann beim anderen Elternteil, erhalten bleiben soll[48].
Viel wichtiger ist aber die Flexibilität, die Eltern, und gerade der ansonsten hauptbetreuende Elternteil, durch die Doppelresidenz gewinnen können. Da beide Eltern in die Alltagsbetreuung und Versorgung eingebunden sind ist es leichter, bei Krankheit, kurzfristigen Terminen oder z.B. auch beruflich notwendigen Auswärts-Terminen auf die Betreuungsunterstützung durch den anderen Elternteil zurückzugreifen. Wenn sich hier zwischen den Eltern eine gegenseitige Mentalität des „Gebens und Nehmens“ oder aber auch des „miteinander für das Kind da sein“ entwickelt, profitieren alle Beteiligten davon.
Beziehungspflege braucht Zeit und so ist es nicht verwunderlich, dass im klassischen Residenzmodell das Familien- und soziale Umfeld des „Umgangs-Elternteils“ dem Kind als wichtiger Bezugsfaktor, der es bis dahin in seinem Leben geleitet hat, nur eingeschränkt zur Verfügung steht.
Gerade Großeltern können nicht nur wertvolle Unterstützung für die Eltern, sondern vor allem auch wichtige Stabilitätsfaktoren für die Kinder sein. Die Doppelresidenz bietet hier günstigere Voraussetzungen, dass die Familien- und sozialen Systeme beider Eltern den Kindern langfristig zur Verfügung stehen.
Wichtig ist auch die Frage, welcher Betreuungs-Rhythmus in welchem Alter für Kinder und Eltern passend ist. Das „alle 14 Tage am Wochenende“ ist zwar bekannt, entbehrt aber jeder am Wohlergehen des Kindes orientierten Grundlage – es entstand vor vielen Jahrzehnten schlicht aus den damaligen Rollenverhältnissen.
Der Vater war arbeiten und hatte unter der Woche keine Zeit. Die Mutter kümmerte sich zuhause Vollzeit um Haushalt und Kinder. Nach einer Trennung hatten Väter dann auch weiterhin nur am Wochenende die Möglichkeit, für ihre Kinder da zu sein – alle 14 Tage. Wie es den Kindern dabei ging fragte zu dieser Zeit kaum jemand und wissenschaftliche Erkenntnisse dazu gab es auch nicht – das Residenzmodell entstand ausschließlich an den Möglichkeiten der Eltern orientiert. Die Möglichkeiten und Rollenmodelle der Eltern haben sich heute bereits grundlegend verändert. Nur unser Denken orientiert sich häufig weiterhin an dem, was vor 60, 70 oder 100 Jahren gelebt wurde. Und auch die heute angeordneten „erweiterten Umgänge“ mit einem Tag unter der Woche zusätzlich, nähern sich zwar dem Bindungsbedürfnis von Kindern an, werden aber viel zu häufig holzschnitzartig Familien übergestülpt, selbst wenn deren Bedürfnisse und Möglichkeiten andere Lösungen zulassen würden. Ein unpassendes wird durch ein anderes, auch nicht wirklich passendes Betreuungsmodell ersetzt.
Nur wie könnten Betreuungsmodelle unter den heutigen Rahmenbedingungen für Kinder ausgestaltet werden?
In einem kürzlich erlebten Fall wurde argumentiert, dass die Doppelresidenz für das 3-jährige Kind zu belastend sei – eine Woche von der Mutter getrennt zu sein wäre zu viel. Gleichzeitig wurde ein „klassisches“ Residenzmodell alle 14 Tage von Freitag bis Montag vorgeschlagen – in dem das Kind 11 Tage vom Vater getrennt gewesen wäre. Diese Perspektive wurde aber anfangs überhaupt nicht gesehen.
Auch hier wurde der durchaus richtige Ansatz des Zeitempfindens von Kindern nicht auf das Bedürfnis des Kindes nach beiden Eltern übertragen. Hinzu kam noch das häufige Missverständnis, dass eine Doppelresidenz immer Woche-Woche bedeuten würde. Der Betreuungsrhythmus hat sich jedoch an Alter und Entwicklung des Kindes und nicht an starren Modellen zu orientieren.
Als Anhaltspunkt kann man sich merken, dass ein Kind nicht länger von einem Elternteil getrennt sein sollte, als es Jahre alt ist. Bei einem 3-jährigen Kind also nicht länger als 3 Tage.
Einige häufiger angewandte Betreuungs-Regelungen zur Doppelresidenz sind zum Beispiel:
· 2/2/3 Tage für Kinder von 1 – 4 Jahren
· 5/5/2/2 Tage für Kinder von 3 – 6 Jahren
· 7/7 Tage ab 5 Jahren / ab dem Schulalter
· 14 Tage / 14 Tage bei Teenagern
Auch diese Werte sind keine starren Regeln, sondern müssen flexibel angewandt werden und Eltern natürlich auch mal länger in den Urlaub fahren. Augenmaß ist bei der Wahl des Betreuungsrhythmus, wie in vielen anderen Fragen auch, gefragt.
So konnte auch im oben beschriebenen Fall mit einer Betreuungslösung 2/2/3 Tage eine für beide Eltern gute Lösung gefunden werden, welche spätestens vor Schulbeginn noch einmal überprüft und angepasst werden soll.
Bisher wenig beachtet worden ist, dass die Doppelresidenz einen erheblichen Schutzfaktor für Kinder darstellen kann. In vielen Fällen von Vernachlässigung oder Missbrauch besteht entweder kein oder nur sehr seltener Kontakt zu einem Elternteil. Gefährdungen des Wohles des Kindes kann dieser entweder gar nicht oder nur mit erheblicher Verzögerung wahrnehmen.
Anders bei der Doppelresidenz, in der beide Eltern in die Betreuung der Kinder intensiv eingebunden sind und Veränderungen und Entwicklungen auch wahrnehmen können. Die Gefahr, dass kindeswohlgefährdende Entwicklungen eintreten, ist daher geringer, wenn beide Elternteile das Kind im Blick haben können.
Ein weiterer Punkt ist die Möglichkeit, dass das Kind bei zeitweiliger Verhinderung eines Elternteils durch Lebenskrisen oder gesundheitliche Einschränkungen / Verhinderungen mit wenig Aufwand im ihm vertrauten Haushalt des anderen Elternteils betreut werden kann.
Auch die größten Nachteile der Doppelresidenz müssen angesprochen werden. Diese liegen vor allem in den Köpfen – den Köpfen von uns allen.
Kaum jemand ist vor 30, 40 oder 50 Jahren in der Doppelresidenz aufgewachsen – was unbekannt ist, ist uns erst einmal fremd und wird zur Sicherheit abgelehnt. Dieser durchaus menschliche Instinkt, der uns in der Steinzeit sicherlich vor viel Unheil bewahrt hat, führt in Bezug auf die Betreuungskonstellationen von Kindern aber nicht unbedingt zu guten Lösungen.
Wenn wir Zweifel an der Doppelresidenz äußern, dann müsste im Umkehrschluss das Residenzmodell natürlich die bessere Lösung sein. Dass dem nicht so ist, möchte ich an zwei Beispielen darstellen, die ich so selbst erlebt habe.
Im ersten Fall wehrte sich eine ältere Dame auf einer Veranstaltung massiv gegen die Doppelresidenz. Im Gespräch erklärte sie mir dann, dass sie als Kind beim Umgang immer geschlagen wurde. Es wäre doch grausam, dies eine Woche ertragen zu müssen. Aus der sehr eingeschränkten Perspektive trifft das sicherlich zu, blendete das eigentliche Problem aber aus – dass ihr Gewalt angetan wurde und es damit keine Frage des Betreuungsmodells, sondern des Kinderschutzes gewesen wäre.
In eine ähnliche Richtung ging die sichtlich erboste Äußerung einer Landtagsabgeordneten im Rahmen einer Ausschuss-Anhörung zur Doppelresidenz. Wie das denn gehen solle bei begleitetem Umgang, sie kenne ich da aus, das wäre völlig illusorisch. Die Doppelresidenz lehne sie daher entschieden ab. Natürlich ist es auch hier nur schwer vorstellbar, in Fällen des begleiteten Umgangs eine Doppelresidenz zu leben – es wird aber Gründe gegeben haben, weshalb nur ein begleiteter Umgang angeordnet wurde – auch hier ist es wieder eine Frage des Kinderschutzes, in der auch ein „klassisches“ Residenzmodell nicht zur Anwendung kommen konnte.
Die Liste ließe sich noch mit Alkohol, Drogen, Gewalt, Vernachlässigung, psychisch kranken Eltern und weiteren Punkten fortsetzen, die immer wieder gegen die Doppelresidenz angebracht werden, damit aber bei genauer Betrachtung überhaupt nichts zu tun haben.
In mehreren Gesprächen hat sich hierbei aber eine Selbstselektion vieler Fachkräfte gezeigt, die vor allem Lösungen für ihre schwierigsten Fälle suchten und die Doppelresidenz hieran maßen.
Deshalb lautet der dringende Appell: bei der Beurteilung des Betreuungsmodells ist zwischen Kinderschutz und regulärer Betreuung zu differenzieren.
In allen Fällen, in denen eine Betreuung der Kinder durch beide Eltern möglich ist und die Wohnorte so gelegen sind, dass das Kind sein soziales Umfeld von beiden Haushalten erreichen kann, ist eine Doppelresidenz grundsätzlich möglich und sollte – frei von bisherigen Vorurteilen – geprüft werden.
Dabei sollte vor allem der bisherigen, vor allem bei Familiengerichten zu beobachtenden, defizitorientierten Praxis, einen besseren und einen schlechteren Elternteil zu suchen, ein Ende bereitet werden.
Aus Sicht der Kinder sollte die Kernfrage lauten: wie können die Fähigkeiten und Ressourcen beider Eltern den Kindern bestmöglich zugänglich gemacht werden? Denn Kinder profitieren von der Verschiedenartigkeit ihrer Eltern, deren unterschiedlichen Ansichten und Fähigkeiten. Sie lernen von ihnen die Rollenmuster von Mann und Frau, die sie später in ihre eigenen Beziehungen einbringen.
Wir sollten uns auch in Deutschland endlich von dem bereits über Jahrzehnte andauernden, transgenerativen Teufelskreis, dass viele Kinder getrennter Eltern überwiegend nur einen Elternteil erleben, verabschieden und die Chancen, die die Doppelresidenz nicht nur Eltern und Kindern, sondern auch der Gesellschaft insgesamt bietet, nutzen. Der Blick nach Skandinavien, Belgien und Australien zeigt, dass es sich lohnt – sowohl für die Eltern als auch für die nachfolgenden Generationen, über deren Schicksal oftmals im Kindesalter entschieden wird.
Weitere Anregungen zum Thema mit jeweils aktualisierten Informationen zu Praxis, Wissenschaft und Rechtsprechung finden Sie unter www.doppelresidenz.org .
Thema | Residenzmodell | Doppelresidenz |
---|---|---|
Unterhalt [49][50] | Hohes Konfliktpotential | Geringeres Konfliktpotential |
Umgang 42 43 | Hohes Konfliktpotential | Geringeres Konfliktpotential |
Alltagsfragen | Kein unterschied gem. §1687 (1) Satz 4, jeder ET entscheidet in seiner Zeit | Kein unterschied gem. §1687 (1) Satz 4, jeder ET entscheidet in seiner Zeit |
Grundsätzliche Alltagsfragen gem. §1687 (1) Satz 2 BGB | Klare rechtliche Zuordnung | Rechtlich unklar, bedarf klarer Ausgestaltung gerichtlicher Regelungen, solange der Gesetzgeber hier noch keine Abhilfe geschaffen hat |
Ablehnung des anderen Elternteils (ggf. weiterführend sorgerechtlich zu prüfen) | Belastend für Kinder, Gefahr der Instrumentalisierung durch den hauptbetreuenden Elternteil, Gefahr der Entfremdung vom weniger betreuenden Elternteil [51][52] | Belastend für Kinder, Gefahr der Entfremdung wird vermindert 25, Verminderung der Verfügungsgewalt eines Elternteils 41, Kind hat die Chance, sich von beiden Eltern ein eigenes Bild zu machen |
Streit der Eltern [53]12[54] [55][56] | Belastend für die Kinder, eher höhere Belastung | Belastend für die Kinder, eher geringe Belastung. Mehr Zeit mit dem anderen Elternteil kann die Auswirkungen des Konfliktes für das Kind teilweise kompensieren |
Kontinuität bei vorher zusammenlebenden Eltern[57] | Deutlicher Bruch in der persönlichen Kontinuität, da Kind einen Elternteil nicht mehr im Alltag erlebt, zusätzliche Belastung für die Kinder und für den hauptbetreuenden Elternteil, der den Alltag alleine bewältigen muss 10 | Entspricht dem Kontinuitäts-grundsatz am besten, da Kind beide Eltern weiterhin in Alltag und Freizeit erleben kann, Alltagsbelastungen werden auf beide Eltern verteilt, dadurch mehr Qualitätszeit der Kinder mit beiden Eltern. |
Förderung der Kinder | Schlechter, höheres Armutsrisiko[58], dadurch Gefahr der schlechteren Entwicklung der Kinder | Besser (Kinder können von den Fähigkeiten beider Eltern profitieren) |
Erhalt des familiären Umfeldes beider Eltern (Großeltern, Verwandte etc.) | schlechter | besser |
Bindung an die Mutter[59] | gleich | gleich |
Bindung an den Vater 54 | schlechter | besser |
Kommunikation Kind mit der Mutter[60] | schlechter | deutlich besser |
Kommunikation Kind mit dem Vater55 | schlechter | besser |
Wohlbefinden der Eltern 55 [61] 37 (geht es den Eltern gut geht es auch den Kindern gut) und Kinder | schlechter | besser |
Schulische Leistungen12[62] | schlechter | besser |
Depressionen und psychische Erkrankungen[63] 36 | mehr | weniger |
Stress der Kinder 61 [64] | mehr | weniger |
Alkohol- und Drogenkonsum [65] | mehr | weniger |
Wirtschaftliche Situation [66] 61 (wirkt sich auf das Wohlbefinden der Kinder aus, Armut ist eines der größten Entwicklungsrisiken für Kinder) | schlechter für den hauptbetreuenden Elternteil | besser, da gleiche Chancen für beide Eltern einer existenzsichernden Erwerbstätigkeit nachzugehen, welche auch die Gefahr der Altersarmut vermindert |
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