Artikel erschienen im englischsprachigen Original im Journal of Child Custody, Michael E. Lamb (2018): Does shared parenting by separated parents affect the adjustment of young children?, Journal of Child Custody, DOI: 10.1080/15379418.2018.1425105
https://doi.org/10.1080/15379418.2018.1425105
Zusammenfassung des Artikels und Übersetzung durch Markus Witt, Sprecher des Bündnisses doppelresidenz.org. Der Artikel gibt ein Extrakt der Ergebnisse des Artikels wieder, ergänzt um einen Kommentar von doppelresidenz.org am Ende des Beitrages.
Abstract:
Die sich verändernden Familienrollen und die Anzeichen dafür, dass die meisten Säuglinge Bindungsbeziehungen zu beiden Elternteilen eingehen, haben eine Debatte über Elternvereinbarungen ausgelöst, wenn sich die Eltern von Säuglingen und Kleinkindern trennen. Das Missverständnis der Bindungstheorie und die verfügbaren empirischen Belege haben die evidenzbasierte Entscheidungsfindung eher verschleiert als geklärt. In diesem Bericht untersuche ich genau die fünf Studien, auf die in diesem Zusammenhang am häufigsten Bezug genommen wird, und zeige auf, was sie uns sagen und nicht sagen, auf welche Weise die Anpassung von Kindern gefördert werden kann, wenn sich ihre Eltern trennen.
In Übereinstimmung mit der Bindungstheorie deuten die Belege darauf hin, dass Kinder davon profitieren, wenn Elternpläne es ihnen ermöglichen, sinnvolle und positive Beziehungen zu beiden Elternteilen aufrechtzuerhalten.
Lamb berichtet einführend über die Kontroversen der letzten zwei Jahrzehnte über die optimalen Betreuungspläne für kleine Kinder getrennter Eltern. Er führt dies zurück auf die Zunahme unverheirateter Eltern, die sich trennen, während die Kinder noch klein sind und die Bereitschaft der Rechtsprechung, sich von mütterorientierten Betreuungsregelungen abzuwenden und mehr Betreuungsregelungen anzuwenden, welche die Beziehungen zu beiden Eltern fördern.
Angeheizt worden sei die Diskussion zudem durch zahlreiche Fehlinterpretationen mehrerer Studien. Mit dem Artikel will er deren Erkenntnisse in einen Kontext stellen und diese auch in Anlehnung an seine früheren Arbeiten genauer untersuchen.
Es bestehe unter Forschern seit langem die Sorge, dass sich elterliche Trennungen negativ auf die Anpassung von Kindern auswirken könnten. Die habe sich auch in jahrzehntelangen Forschungsarbeiten und zahllosen Studien gezeigt, dass Kinder nach einer elterlichen Trennung viele Hinweise auf Fehlanpassungen zeigten und hierfür ein erhöhtes Risiko aufwiesen. Dabei müsse aber festgehalten werden, dass die Mehrheit von Kindern getrennter Eltern gute Anpassung zeigte. Aufgrund der hohen Variabilität der Ergebnisse änderte sich die reine Betrachtungsweise des reinen Vergleichs von Ein- und Zweielternfamilien hin zur Betrachtung individueller Unterschiede der Ergebnisse der Kinder. Hierbei sei klar, dass die Ergebnisse besser seien, wenn Kinder nach einer elterlichen Trennung „eine starke unterstützende Beziehung zu ihren Eltern haben, und schlechter, wenn es zwischen den Eltern anhaltende und intensive Konflikte gibt“.
Diese Feststellungen, die auch die Aufrechterhaltung der Beziehung zu beiden Eltern beinhalte, habe zu einem besseren Verständnis und einer Veränderung in Rechtsprechung und Beratung geführt, sich verstärkt um eine Fortsetzung dieser positiven Beziehungen nach einer elterlichen Trennung zu bemühen, diese zu fördern und zu verstehen, wie Eltern-Kind-Beziehungen entstehen und sich entwickeln würden.
Hierbei biete am gründlichsten das von Bowlby und Ainswoth 1969 beschriebene Modell der Bindungstheorie die beste Grundlage. Nach dieser Theorie entwickeln sich Bindungen von Säuglingen, wenn die sie versorgenden Menschen konsequent und in angemessener Art und Weise auf Signale, auch Notsignale, reagieren würden. Dies schaffe Vertrauen bei den Kindern, welches durch positive Signale wie lächeln oder negative Signale wie schreien verstärkt werden würde.
Bei zusammenlebenden Eltern würden sich Bindungen ungefähr Mitte des ersten Lebensjahres zu beiden Eltern auf gleiche Weise, durch Vertrauen und Sicherheit auf der Basis konsequent, angemessener Reaktionen bilden. Hier könnten sich auch Bindungen zu weiteren Personen wie Großeltern und Geschwistern bilden, sofern diese in regelmäßiger, konsistenter Interaktion mit dem Kind stehen würden. Sicherer Bindungen zwischen Säuglingen und Erwachsenen werden als Indikatoren für bessere Anpassungsleistungen im Kindesalter gewertet. Dabei erscheinen Kinder, die an beide Eltern oder mehrere Bindungspersonen sicher gebunden sind besser angepasst als Kinder, die nur eine sichere Bindung haben oder unsichere Bindungsbeziehungen. Diese Ergebnisse würden unterstreichen, „wie wichtig es ist, die Aufrechterhaltung von Bindungsbeziehungen zu beiden Elternteilen zu fördern, wenn sich die Eltern trennen“.
Während beispielsweise Kelly & Lamb die Bedeutung der Kinder zu beiden Eltern erklärten, warnten andere Forscher davor, dass die Mutter-Kind-Bindung geschädigt werden würde, wenn die Kinder regelmäßig über Nacht von Ihren Müttern getrennt wären. Diese Argumentation fußte auf einer einmal von Bowlby geäußerten Vorstellung der Monotropie (dass Säuglinge anfangs nur eine primäre Beziehung haben könnten und diese auch später primär bleiben würden), die dieser später aber selbst verworfen hatte.
Diese Argumentation ignorierten allerdings bereits vorliegende, umfangreiche Beweise, dass auch Säuglinge in gleicher Weise Bindungen zu beiden Eltern eingingen und durch zeitweise Trennungen von Bezugspersonen nicht übermäßig belastet werden.
Lamb führt weiter aus, dass trotzdem mehrere Forscher Studien verfassten um herauszufinden, ob sichere Bindungen von Mutter und Kind durch nächtliche Trennungen von Säuglingen die psychologische Anpassungsfähigkeit von Säuglingen beeinträchtigen würden. Die fünf relevanten Studien zu dieser Fragestellung untersucht er in seinem Artikel ausführlicher:
Die ersten Befürchtungen, dass die nächtliche Trennung von Mutter und Kind sich negativ auf deren Bindung auswirken könnte, lieferte die Studie von Solomon und George. Nach genauer Betrachtung musste aber der Hauptautor selbst 2013 einräumen, dass seine Schlussfolgerungen nicht gerechtfertigt gewesen waren.
Die Auswahl der 52 zusammenlebenden und 93 getrennten Familien war weder repräsentativ oder vergleichbar. Die zusammenlebenden Familien waren besser gebildet und wohlhabender als die getrennten Familien. Die getrennten Familien zeichneten sich durch ein überdurchschnittlich hohes Konfliktniveau aus und viele von ihnen hatten nie zusammengelebt bzw. sich sehr schnell nach der Geburt getrennt – im Durchschnitt im Alter der Kinder von 5 Monaten. So konnten kaum beurteilbare Bindungen entstehen. Die Studie konnte daher weder den Aufwand noch den Nutzen von Übernachtungen bei den Vätern beurteilen.
Rund die Hälfte der Säuglinge übernachtete nur eine Nacht im Monat bei Ihren Vätern. Bei diesen wurde zu 66% eine „unorganisierte Mutter-Kind-Bindung beobachtet, bei den Säuglingen ohne Übernachtung hingegen nur in 43% der Fälle und bei den zusammenlebenden Eltern nur bei 35%. Solomon selbst räumte später ein, dass hiervor die Konflikte zwischen den Eltern und nicht die Übernachtungen maßgeblich gewesen seien. Die Studie hat daher nicht die Auswirkungen von Übernachtungen auf die Kinder, sondern eher die Auswirkung von Konflikten untersucht. Es gab keine Hinweise, dass die Übernachtungen bei Vätern die Qualität der Mutter-Kind-Bindung beeinträchtigen würde, wohl aber ein erhöhtes Konfliktniveau zwischen den Eltern.
Lamb untersuchte als nächstes eine Studie, die mit Unterstützung der Familiengerichte in Connecticut durchgeführt wurde und sich auf 132 Familien bezog. Erhebungszeitpunkt war 15 – 18 Monate nach der Trennung. Ein Viertel der Kinder lebte ausschließlich bei ihren Müttern, etwa ein Drittel (31%) verbrachte eine Nacht pro Woche bei ihren Vätern, und der Rest (44%) hatte mehr als eine Übernachtung pro Woche bei ihren Vätern.
Beide Elternteile berichteten übereinstimmend, dass die Kinder weniger Verhaltensprobleme hatten, wenn eine gute Beziehung zu beiden Eltern bestand. Sowohl bei regelmäßigen Betreuungsplänen als auch bei Übernachtungen bei den Vätern waren weniger Verhaltensprobleme zu verzeichnen. Lamb stellt fest, dass die Ergebnisse der Studie von Pruett et al. mit den Grundlagen der Bindungstheorie übereinstimmen, dass Kinder nach einer Trennung der Eltern von der Aufrechterhaltung unterstützender Beziehungen zu beiden Elternteilen profitieren.
Sehr ausführlich befasste sich Lamb mit der häufig zitierten Studie von McIntosh et al., da diese zu erstaunlich unterschiedlichen Schlussfolgerungen kam und damit in erheblichem Maß Aufmerksamkeit erregte. Die Ergebnisse der Studie würden jedoch häufig falsch interpretiert, weshalb Lamb ihr mehr Aufmerksamkeit widmete, um die Hintergründe zu beleuchten.
Die Teilnehmer stammten aus der Longitudinalstudie australischer Kinder (LSAC), einer großen, landesweit repräsentativen Studie australischer Kinder, die im Säuglings- oder Kleinkindalter rekrutiert und in regelmäßigen Abständen verfolgt wurden (http://www.growingupinaustralia.gov.au/).
McIntosh et al. analysierten dabei 258 Kleinkinder im Alter zwischen 3 und 20 Monaten. 164 dieser Säuglinge lebten ausschließlich bei ihren Müttern, 21 lebten meist bei ihren Müttern und übernachteten weniger als einmal im Monat bei ihren Vätern. Weitere 63 Säuglinge übernachteten mindestens einmal pro Woche. Nicht bekannt war jedoch, ob die Eltern jemals zusammengelebt hatten und ob die Kinder überhaupt eine Möglichkeit hatten, eine Bindung zu ihren Vätern aufzubauen. Zudem waren einige der Kinder noch zu jung, um überhaupt eine Beurteilung von Bindungen vornehmen zu können.
Da es sich bei der LSAC um eine große, vielschichtige Studie über die Entwicklung von Kindern handelte, wurden viele Bereiche der Entwicklung bewertet, aber die Studie enthielt keine etablierten oder validierten Messungen der Anpassung von Säuglingen oder der Bindung zwischen Säugling und Eltern, außer einer einzigen Bewertung der Forscher, wie die Säuglinge darauf reagierten. Ein 24-Punkte-Maß (die Skalen für Kommunikation und symbolisches Verhalten) konzentrierte sich auf die Bereitschaft der Säuglinge, Sprache zu lernen; mehrere Studien, die Daten aus der LSAC verwenden, bestätigen, dass höhere Punktzahlen auf diesen Skalen einen besseren Spracherwerb und kommunikative Fähigkeiten vorhersagen (z.B. Wetherby & Prizant, 2002; Wetherby, Allen, Cleary, Kublin, & Goldstein, 2002). Obwohl die Items ausgewählt worden waren, weil sie den Spracherwerb vorhersagten, wählten McIntosh und ihre Kollegen (2010) drei Items zur Messung der "Vigilanz" (Zustand dauerhafter Aufmerksamkeit) aus:
"Wenn dieses Kind mit Spielzeug spielt, schaut es Sie an, um zu sehen, ob Sie zuschauen", "Wenn Sie diesem Kind keine Aufmerksamkeit schenken, versucht es, Ihre Aufmerksamkeit zu erregen" und "Versucht dieses Kind, Sie dazu zu bringen, interessante Gegenstände zu bemerken - nur, um Sie dazu zu bringen, die Gegenstände anzuschauen, nicht, um Sie dazu zu bringen, irgendetwas mit ihnen zu machen".
Vigilanz wurde durch McIntosh et al. als ein Index der Bindungsunsicherheit interpretiert, ungeachtet der Tatsache, dass die Gegenstände als Maße für die Sprachbereitschaft und nicht für die Bindungsunsicherheit validiert wurden. Das LSAC beinhaltete auch ein von den Eltern gemeldetes Maß für das Temperament, um dauerhafte oder konstitutionelle Aspekte der kindlichen Persönlichkeit zu beurteilen. Das Maß umfasste 5 Skalen und einen zusammengesetzten Score (Schwierigkeitsgrad), der als einziger sowohl allgemein als auch im LSAC gezeigt wurde, um spätere Verhaltensprobleme vorherzusagen. McIntosh und ihre Kollegen (2010) verwendeten jedoch die von der Mutter berichteten Reizungsgrade, um die mutmaßlichen Auswirkungen von Bindungsschwierigkeiten zu indizieren.
Es wurde festgestellt, dass Kinder, die eine oder mehrere Übernachtungen pro Woche bei ihren Vätern hatten, genauso reizbar und wachsam waren wie Kinder aus intakten Familien, aber reizbarer und wachsamer als Kinder mit seltenen Übernachtungen. In die Analyse wurden die Kinder aus intakten Familien jedoch nicht einbezogen, ebenso wie viele andere Teilnehmer, von denen möglicherweise Daten fehlten. Gruppenunterschiede in der Art und Weise, wie die Forscher die Antworten der Kleinkinder auf die Fragen der Forscher bewerteten, als diese zur Durchführung der Interviews eintrafen, konnten nicht festgestellt werden.
Berücksichtigt wurden allerdings von der Mutter berichtete Verhaltensprobleme, emotionale Funktionsfähigkeit und "Persistenz" (auf dem 6-Skalen-Maßstab des Temperaments). Untersucht wurden ebenso von der Lehrerin berichtete Konfliktniveaus, um die Anpassung der Zwei- und Dreijährigen zu beurteilen. Die Analysen ergaben, dass die 26 Kinder, die 35% oder mehr der Zeit bei ihren Vätern übernachteten, nach Angaben ihrer Mütter weniger hartnäckig waren als Kinder in allen anderen Gruppen und sich nach Angaben ihrer Mütter auch problematischer verhielten als Kinder, die nur selten bei ihren Vätern übernachteten oder diese besuchten.
Ähnlich wurden auch die vier- und fünfjährigen Teilnehmerinnen eingeschätzt, auch hier auf Basis der Angaben der Mütter und den von den Lehrerinnen berichteten Konflikt- und Verhaltensproblemen. Es zeigte sich, dass die Kinder, die 35% oder mehr an Zeit bei ihren Vätern verbrachten, sich in keiner Weise von den Kindern in den anderen Gruppen unterschieden.
Lamb konstatierte, dass einige der beobachteten Gruppenunterschiede im Verhalten von Säuglingen und Kleinkindern, die lediglich durch die Mutter berichtet wurden, in vielen Fällen von unbekannter wissenschaftlicher Gültigkeit waren. Bei den von Beobachtern oder Lehrern berichteten Messungen gab es in keinem Alter Unterschiede, auch nicht bei den 4- und 5-jährigen Kindern, unter welchen Umständen diese vorher auch festgestellt wurden. Einige der Kinder wurden mit 4 / 5 Jahren erstmals beurteilt, während andere bereits in jüngeren Jahren beurteilt wurden. Lies ließe Fragen hinsichtlich der Langlebigkeit früher festgestellter Unterschiede aufkommen.
Auch diese Studie bezog ihre Daten aus einer großen nationalen Studie (die Fragile Families Study; (http:// www.fragilefamilies.princeton.edu/), die zu anderen Zwecken initiiert wurde. Sie war auch auf nationaler Ebene nicht repräsentativ, da sie sich auf "fragile" oder risikoreiche neue Familien konzentrierte. 90% der Paare waren nicht verheiratet, 70% lebten nicht zusammen und 20% hatten bei der Geburt nicht einmal eine Beziehung zueinander. 60% der Teilnehmer lebten unterhalb der Armutsgrenze, 66% der Eltern hatten keinen High-School-Abschluss und 85% waren Schwarze oder Hispanoamerikaner.
Aus dieser Gruppe wurden für die Studie Familien ausgewählt, die getrennt lebten, als die Kinder ein und drei Jahre alt waren. Diese wurden dann aufgrund von Angaben der Mütter in Gruppen eingeteilt, als die Kinder ein und drei Jahre alt waren. Beantwortet werden sollten folgende Fragen:
"Wie viele Nächte hat das Kind seit seiner Geburt insgesamt mit dem Vater verbracht" und
"Wie viele Nächte hat das Kind seit seinem ersten Geburtstag insgesamt mit dem Vater verbracht".
Die wichtigste abhängige Maßnahme war eine Bewertung der Bindungssicherheit zwischen Kind und Mutter, wenn eine Teilgruppe der Kleinkinder drei Jahre alt war.
Zur Bewertung wurden ausschließlich Antworten der Mütter auf Basis einer verkürzten Liste der Punkte aus der Anlage Q-sort herangezogen. Lamb stellte dazu fest: „Die Reliabilität und Validität dieser verkürzten Itemliste war nicht bewertet worden, und frühere Forschungen haben ergeben, dass zuverlässige und valide Bewertungen anhand der vollständigen Itemliste nur erzielt werden können, wenn geschulte Beobachter und nicht die Eltern als Bewerter eingesetzt werden“.
Weiterhin berichteten Mütter auch unter Verwendung eines zuverlässigen und gültigen Maßes, der Child Behavior Checklist, über Verhaltensprobleme ihrer Kinder im Alter von fünf Jahren.
Aus den Untersuchungen wurde festgestellt, dass von den 51 Kleinkindern, die häufig bei ihren Vätern übernachteten (zwischen 1 – 5 Nächten pro Woche), 57% im Alter von einem Jahr fest mit ihren Müttern verbunden waren. Sahen die Kinder ihre Väter nur tagsüber, traf dies in 75% der Fälle zu und bei 84% der Kinder, die nur selten bei ihren Vätern übernachteten. Hierbei muss aber als wichtiges Merkmal beachtet werden, dass 26 der 51 untersuchten Säuglinge die meiste Zeit bei ihren Vätern lebten. Bei diesen hätte untersucht werden müssen, wie sich die Trennung auf die Bindung zwischen Vater und Kind und nicht zwischen Mutter und Kind entwickelte.
Zu ähnlichen Ergebnissen kam es auch bei den untersuchten dreijährigen in Bezug auf die feste Bindung an die Mutter:
In dieser Testgruppe lebten sogar 70% der übernachtenden Kinder überwiegend bei ihren Vätern. Die Studie konnte also keine Aussagen über die Auswirkungen auf die Bindung zur primären Betreuungsperson liefern. Hinzu kam, dass ungewöhnlicher Weise Kinder, die häufig übernachteten, im Alter von 5 Jahren nach Angaben der Mütter weniger Verhaltensprobleme hatten.
Lamb berichtete dann noch von einer sehr aktuellen Studie, die sich einer ganz anderen Methodik bediente. Hier wurden an einer Universität Eltern identifiziert, die sich trennten, als die heutigen Studenten noch keine drei Jahre alt waren. Die Eltern sollten die Übernachtungsmuster ihrer Kinder in der Kindheit beschreiben und ihre Kinder, die heutigen Studenten, die Qualität ihrer heutigen Beziehung zu beiden Eltern.
Die Anzahl der Übernachtungen pro Woche im Kleinkind- und Säuglingsalter die berichtete Qualität der Vater-Kind-Beziehung voraus, traf jedoch keinerlei Aussage zur Kind-Mutter-Beziehung.
Deutlich erkennbar war eine positive Auswirkung häufigerer Übernachtungen auf die Qualität der Vater-Kind-Beziehung, selbst wenn die Eltern von erheblichen Konflikten berichteten.
Die Aussage dieser Studie begrenzt sich natürlich dadurch, dass es sich hier um selektive Stichproben von gut entwickelten jungen Erwachsenen aus relativ wohlhabenden Verhältnissen handelt.
Diskussion und Einschränkungen
Lamb fasst zusammen, dass die kleine Anzahl an relevanten Studien, die sich mit den Auswirkungen regelmäßiger Übernachtungen bei den Vätern auf die Bindung der Kinder an ihre Mutter auf die psychologische Anpassung der Kinder befassten, durch viele Fehlinterpretationen und methodische Probleme gekennzeichnet seien. Er fasst die fünf wichtigsten Einschränkungen nachfolgend noch einmal wie folgt zusammen:
Lamb weist darauf hin, dass Pruett et al berichteten, dass die Konflikte der Eltern als problematischer als die Anzahl der Übernachtungen erkannt wurden. Dazu passt, dass Fabricius und Suh feststellten, dass sich Übernachtungen bei den Vätern in früher Kindheit auch dann positiv auf die Vater-Kind-Beziehung auswirkten, wenn es Konflikte zwischen den Eltern gab.
Lamb zieht aus den vorliegenden Ergebnissen bei Berücksichtigung ihrer Qualität und limitierten Aussagefähigkeit den Schluss, dass in Übereinstimmung mit der Bindungstheorie Übernachtungen die Festigung der Bindung mit den nicht primär betreuenden Elternteilen ermöglichen. Pruett et al. und Fabricius & Suh zeigten klar positive Auswirkungen. Wenn Studien negative Auswirkungen festzustellen meinten, dann waren die ihnen zugrundeliegenden Methoden dermaßen Fehlerhaft, dass ihre Schlussfolgerungen wie beschrieben nicht stichhaltig waren.
Lamb wies darauf hin, dass es wichtig sei festzuhalten, dass es keine eindeutigen Beweise gebe, dass Übernachtungen durchweg negative Auswirkungen auf die Qualität der Beziehung der Kinder zu ihren hauptbetreuenden Eltern oder auf die psychologische Anpassung der Kinder haben. Die positiven Auswirkungen zeigten sich insbesondere, wenn die Kinder vor der Trennung die Möglichkeit hatten, Beziehungen zu beiden Elternteilen zu entwickeln. Sei dies nicht der Fall gewesen, wären Übernachtungen erst dann denkbar, wenn die Beziehung durch häufige, regelmäßige Interaktion zwischen Elternteil und Kind aufgebaut worden wäre, wie er in einer anderen Veröffentlichung (Kelly & Lamb, 2003) ausführlich diskutierte.
Die Veröffentlichung von Lamb zeigt eindrücklich, wo die Probleme bei der Betrachtung vom Forschungsergebnissen liegen. Wichtig erscheint aus unserer Sicht, dass die Beurteilung der Kinder nicht nur aus einer Sicht, hier meist der Mutter, sondern aus mehreren Blickwinkeln erfolgen muss. Mutter, Vater und auch Dritten, wie Ärzten, Lehrern oder Wissenschaftlern. Nur so kann sich ein aussagefähiges, möglichst zuverlässiges Bild von der Situation der Kinder ergeben. Hier sollte die Wissenschaft sich in der Form öffnen, dass Väter nicht nur als „Besucher“, sondern als wichtige Bindungspersonen für Kinder mit einer eigenen Rolle betrachtet werden. Positive Entwicklungen in den letzten Jahren sind hier bereits zu verzeichnen, limitieren jedoch, wie von Lamb auch diskutiert, aber die Aussagekraft früherer Studien.
Gerade an der Auswahl der Probanden von Tornello sieht man auch, dass Aussagen zur Situation von Kindern nicht auf Basis einer „extremen“ Teilgruppe der Bevölkerung getroffen werden dürfen. Gleiches gilt für sehr kleine, nichtrepräsentative Teilgruppen. Hier liefern große Studienkollektive, die vor allem auch einen Abgleich mit Kindern zusammenlebender Eltern ermöglichen, natürlich validere Ergebnisse. Exemplarisch seinen hier nur die Studien von Bergström et al. genannt, die mit teils mehr als 150.000 Datensätzen einen sehr genauen Einblick in die Entwicklung von Kindern ermöglichen.
In Bezug auf die hier diskutierten Kleinkinder lässt sich festhalten, dass es keine belastbaren wissenschaftlichen Erkenntnisse gibt, dass Säuglinge und Kleinkinder durch häufige Übernachtungen beim anderen Elternteil Schaden nehmen würden. Im Gegenteil gibt es zahlreiche Erkenntnisse, dass diese sowohl im Kleinkindalter als auch in ihrem weiteren Kindheits- und Lebensverlauf von häufigen Übernachtungen bei beiden Eltern profitieren. Hier sei noch einmal auf den Konsensreport von Warshak verwiesen, in dem sich 111 weltweit anerkannte Wissenschaftler unter anderem auch ausdrücklich für die Übernachtungen von Kleinkindern und die möglichst ausgeglichene Betreuung der Kinder durch beide Eltern ausgesprochen haben.
Wichtig wäre, dass diese grundlegenden Erkenntnisse auch in die Überlegungen des deutschen Gesetzgebers bei den anstehenden Reformen des Sorge- und Umgangsrechts einfließen. Dabei hat der Gesetzgeber nicht jeden Einzelfalls zu regeln. Er hat aber Regelungen zu treffen, die für die Mehrzahl der betroffenen Familien zutreffend sind. Dies ist aus unserer, wissenschaftlich umfangreich untermauerten Sicht, der Grundsatz gemeinsamer Elternschaft für ein gesundes und entwicklungsförderliches Aufwachsen von Kindern.
Wie auch die hier diskutierten und viele weitere Studien zeigen, profitieren Kinder von der Betreuung durch beide Eltern. Gleichzeitig ist aber auch erkennbar, dass Kinder unter dem Streit ihrer Eltern leiden. Daher braucht es für eine nachhaltige Entlastung der Kinder vor allem Maßnahmen, die den Streit zwischen Eltern deeskalieren. Die Doppelresidenz kann hierfür eine gute Ausgangsbasis liefern, kann jedoch nicht gesetzgeberische Defizite (siehe kindeswohlfremde Fehlanreize) ausgleichen. Hier muss der deutsche Gesetzgeber seiner Verantwortung endlich gerecht werden, wenn er es mit dem Wohlergehen und dem Schutz von Kindern ernst meint.
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